Über uns das Meer - Lou & Angel


Angel schlang seine Finger um meine, ganz sacht, und ohne Widerstand folgte ich ihm hinab in das Blau, so tief, bis wir mit dem Wasser verschmolzen und durchsichtig wurden, bis nichts mehr über uns war als das Meer.

Die alte Villa auf den Felsen über dem Meer steht seit zwei Jahren leer. Lous Großmutter hatte sie gekauft und renovieren lassen, und für Lou war dies der einzige Ort, an dem sie sich jemals Zuhause gefühlt hat. Seit ihre Großmutter starb war sie nicht mehr hier, und erst jetzt merkt sie, wie sehr sie dieses Gefühl vermisst hat. Doch Lou hat niemandem gesagt, wo sie ist, und wenn sie nicht draußen auf der Veranda wohnen will, muss sie irgendwie an den Schlüssel herankommen. Ob Marco noch einen hat? Marco ist der Sohn des Hausmeisters, der sich seit zwei Jahren um die verlassene Villa kümmert und außerdem der einzige Junge, mit dem Lou bislang eine längere Beziehung hatte. Und er arbeitet für eine Tauchschule in der Bucht von Lacona, die einen waghalsigen Rekordversuch plant: der Apnoist mit dem geheimnisvollen Namen Angel will hier versuchen, ohne Atemgerät und aus eigener Kraft hundertdreißig Meter tief ins Meer zu tauchen. Aber Angel ist mehr als ein atemloser Sportler mit besonderen Fähigkeiten - und bald wird er auch mehr für Lou ...

Er drehte leicht den Kopf und schlüpfte mit einer fließenden Bewegung in sein Shirt. Dabei entdeckte ich die Narbe, die sich deutlich von seiner dunklen Haut abhob, ein lang gezogener Riss links unter dem Brustbein. Ich hob unwillkürlich die Hand, zog sie aber rasch wieder zurück, als ich mir dessen bewusst wurde.

Angel scheint keinerlei Angst davor zu haben, tief im Meer die Kontrolle zu verlieren, doch Lou spürt, dass mehr dahinter steckt als sportlicher Ehrgeiz. Etwas muss in seiner Vergangenheit geschehen sein, etwas, das stärker war als die Angst, zu ertrinken. Es muss einen Grund für ihn geben, da unten umzukehren und zurück an die Luft zu schwimmen, einen Grund, der stärker ist als der Geist, der ihn verfolgt. Und sie ist wild entschlossen, dieser Grund für ihn zu werden.

Angel öffnete meine Faust und legte etwas in meine Handfläche. Seine Berührung war ebenfalls kalt und seine Finger steif, wie gefühllos - doch der grau melierte Stein, der aussah wie ein schiefes Herz, fühlte sich warm an, warm vom Ritt durch fast hundert Meter Wassertiefe in seiner Hand.